Herrn Daniel Hensel kenne ich in meiner Eigenschaft als Redakteur für Neue Musik I Klangkunst seit einigen Jahren als ebenso engagierten Musikwissenschaftlern wie als vielseitigen Komponisten. Für die von mir betreute Redaktion beim Hessischen Rundfunk hat Herr Hensel Musikfeatures über die Komponisten Gerhard Schedl und Heinz Winbeck, zwei seiner Kompositionslehrer, verfasst, zudem - als Auftragswerke - einige elektroakustische Stücke realisiert. Diese beredten Klangkunstkompositionen artikulieren sich in einem bemerkenswert individuellen Idiom, das die mannigfachen Möglichkeiten des heutigen Komponierens mit den elektroakustischen Apparaturen virtuos integriert. Und gerade in diesen Arbeiten für Lautsprecher hat Herr Hensel sich technisch wie ästhetisch vollkommen neue Bereiche erschließen können. Überdies sind seine
elektroakustischen Stücke von unterschiedlichen Kunstformen unserer Zeit geprägt, reflektieren subtil die jeweilige gesellschaftliche Situation, in der sie entstanden sind, positionieren sich mitunter kritisch gegen diese, gleiten - auch als ästhetische Konsequenz - oft ins Surreale. Zentrale Themen in seinem Schaffen sind vielfach die großen Fragen des Lebens und die individuelle Endlichkeit. Der fünffache Familienvater Daniel Hensel hat lange Zeit als Rettungssanitäter gearbeitet. Das Wissen darum kann durchaus ein dienlicher Schlüssel zum Verständnis seines Musikdenkens sein.
Prof. Stefan Fricke
Redaktionsleitung Neue Musik | Jazz | Klangkunst
Dr. Christian Heindl
Über Daniel Hensels Musik
DANIEL HENSEL
Gesang des gesegneten Lebens für großes Orchester op. 18 (2008)
ORCHESTERBESETZUNG 4 Flöten (3. und 4. auch Piccolo), 4 Oboen, 3 Klarinetten in B, 1 Bassklarinette, 3 Fagotte, 1 Kontrafagott – 6 Hörner in F, 4 Trompeten in B, 4 Posaunen, 1 Tuba – 2 Pauken, 6 Schlagzeuger (1. kleine Trommel; 2. großes Tamtam; 3. kleines Tamtam; 4. Becken; 5. Glockenspiel; 6. große Trommel) – Harfe – Streicher (bevorzugt 20/18/16/14/12)
AUFFÜHRUNGSDAUER 12 Minuten
1978 im hessischen Büdingen geboren, zählt Daniel Hensel heute zu den in Deutschland bereits weithin bekannten Komponisten seiner Generation. Von Instrumentalunterricht auf der Gitarre und dem Klavier ausgehend, erfolgten in den frühen 1990er-Jahren erste Kompositionsversuche des 15-jährigen unter der Anleitung von Gerhard Schaubach.
1994-1999 war Hensel Schüler von Gerhard Schedl in den Fächern Komposition, Kontrapunkt, Harmonielehre, Generalbassspiel und Instrumentation in der „Laienabteilung“ am Hoch´schen Konservatorium in Frankfurt am Main. Daneben absolvierte er an diesem Institut auch eine Klavier- und Flötenausbildung. Weitere Studien folgten bei Heinz Winbeck, Manfred Trojahn, Michael Obst und Joachim F. W. Schneider. So vielseitig wie es die Aneinanderreihung dieser prominenten Komponistenpersönlichkeiten versinnbildlicht, ist auch das bisherige Œuvre des jungen Komponisten.
Neben dem geradezu „klassischen“ Opus 1 einer Klaviersonate gibt es bereits mit dem Op. 1 Nr. 2 eine konkrete und sehr persönliche Bezugnahme zu einem seiner Lehrmeister, handelt es sich doch um eine Klavierelegie „In Memoriam Gerhard Schedl“, der 2000 nur 43-jährig durch Selbstmord aus dem Leben geschieden war. Eine Aufarbeitung dieser tragischen Erfahrung bedeutet auch das Op. 2, „...Ihr lacht wohl über den Träumer... – eine Bewältigung für dunkles Ensemble“, das Schedl und dessen Witwe Jutta gewidmet ist. Zahlreiche Klavierwerke – des Pianisten Hensel –, Kammermusik, Ensemblestücke, Orchestermusik und Vokalsätze bilden den weiteren Werkkatalog. Auffällig, dass auch hier vielfach dunkle Farben aufscheinen, etwa im „Requiem der jungen Hoffnungen“ op. 6. Und weiters auffällig die immer wiederkehrenden Wien- und Österreichbezüge des Hessen:
So ist das Requiem auf Lenau- und Schubert-Texte verfasst, dem zweiten Streichquartett op. 12 „Im Nebel“ liegt Trakl zu Grunde. Es mag demnach nicht verfehlt sein Hensel, der sowohl Mitglied im Deutschen Komponistenverband als auch im Österreichischen Komponistenbund ist, in einer Traditionslinie von Schubert über Mahler und seinen Lehrer Schedl in die Gegenwart zu sehen.
Dementsprechend erfüllt sich mit dem heute zur Uraufführungen gelangenden „Gesang des gesegneten Lebens“ für großes Orchester op. 18 nach Hensels eigener Aussage ein Lebenstraum: die gemeinsame Programmierung eines seiner Werke in Verbindung mit Gustav Mahler. Dass diese „Ouvertüre zu Gustav Mahler“ (Martin Mezger in der Eßlinger Zeitung vom 28. März dieses Jahres) keineswegs nur als ein „Appetizer“ auf die nachfolgende Sinfonie aufgefasst werden sollte, wird deutlich, wenn man um Hensels tiefschürfende Auseinandersetzung mit dem Werk Mahlers weiß. Unverkennbar auch die atmosphärische Nähe, die von den ersten Takten an den Hörer umfängt. Geschickt wird der riesenhafte Orchesterapparat nicht als Selbstzweck, sondern zur fein nuancierten Schattierung und zum Steigerungsaufbau genutzt. Stehen für frühere Zeiten oft umfangreiche Korrespondenzen zwischen Komponisten und ihren Textern, Verlegern und anderen Vetrauten als Zeugnisse des Schaffensprozesses zur Verfügung, so nimmt diese Rolle heute naturgemäß die elektronische Kommunikation ein. Einige Auszüge aus dem E-Mail-Logbuch an den Verfasser mögen das Werk besser beschreiben, als eine detaillierte Analysestudie:
29. Juni 2008: „Das Konzept: die Mahler - Nähe hat mich kompositorisch zunächst vollkommen erschlagen. Ich habe tatsächlich ACHT verschiedene Anläufe gebraucht, die jedes Mal vier Minuten Musik bedeutet haben, um mich von Mahler zu lösen. Ich schreibe schon seit Mai, aber noch nie ist mir das Komponieren so schwer gefallen wie bei diesem Projekt. Es ist übrigens das tollste Projekt, welches ich bisher machen durfte […] Also: Ich dachte mir, dass ich auf keinen Fall zur II. Bezug nehmen sollte, sondern zu Mahler insgesamt. Ein wesentliches Moment der Mahler´schen Musik ist ja der Naturlaut. Ich lebe in einer waldreichen Gegend [und meine Frau scheucht mich auch jeden Abend mindestens acht Kilometer durch den Wald, damit ich nicht zu umfangreich werde;-)], also war mir die Suche nach dem Naturlaut von heute auch nicht wesensfremd. Die Naturlaute haben sich ja verändert, man steht heute im Wald, hört die Vöglein singen und hört dabei eine Motorsäge aus der Ferne kommend und ein Flugzeug über sich fliegen. So hatte ich schon einmal ein Sujet. Da lag der nächste Schritt ganz Nahe: Bezug nehmen zur I. Sinfonie als ‚Ouvertüre’ zur II. Denn in der II. wird der Held der I. zu Grabe getragen! – So entsteht im Stück zunächst aus einer ‚Ursuppe’ das A. Sobald das A Wirklichkeit geworden ist, wird es verfremdet. In dieser irrealen Landschaft kommen dann Naturlaute immer wieder als Schrei hervor. Das ganze ist ein additives Stück, das heißt, es wird an einem musikalischen Konzept festgehalten, zu welchem immer mehr neues hinzukommt. Der Plan verläuft wie bei der Evolution: erst die Einzeller, dann höhere Organismen, dann der Mensch. Hier beginnt auch meiner derzeitige Krise: Die Erscheinung des Menschen muss ganz besonders hervorgehoben werden. Ich überarbeite zur Zeit noch einmal die ersten vier Minuten, weil mir die Entwicklung zu schnell geht. […]“
6. August 2008: Nachdem ich eine Definition von Leben gesucht habe, bin ich beim Menschen angelangt, der Mensch als Mitte zwischen Makro- und Mikrokosmos, als Wesen der Liebe und Zerstörung. Nun würde ich gerne zur Natur zurückkehren, die allerdings nun vom Menschen stark verändert wurde. Ich würde gerne auf musikalischem Wege zur Industrialisierung und zur Verwüstung führen, Evolution als das, was passiert, ohne Wertung und ohne Hoffnung, dabei immer leiser werdend, geräuschhaft und ersterbend, dann wie ein Blitz: der I. Satz aus der II. Mahler. Musikalisch gestalten will ich dies über Leitrhythmen, die allerdings aus Klappengeräuschen gestaltet werden sollen. Mal sehen, wie ich das mache. Die Gefahr ist immer, dass man zu sehr vom Programm gefangen wird und es aber musikalisch ja noch Sinn machen muss.“
15. August 2008: „Ich arbeite gerade noch einmal den Höhepunkt um, der war mir dann zu harmlos. Er wird in ES gestaltet als Teilung der Oktav (Mensch zwischen Mikro und Makrokosmos), A und Es Spannung als Anspielung auf Tristan. Die Blechbläsereinwürfe werden nach den Dreieckszahlen und anschließend nach den Fibonacci Zahlen geordnet, dabei wird ein mechanisierendes Schlagzeugbombardement in Sechzehntelketten vom Zaun gebrochen. Das ganze wirkt dann im Zusammenhang wie eine kurze Episode, so wie ja auch die Menschheit nur eine kurze Episode der Weltgeschichte ist. Auch kehre ich nicht mehr zum A zurück, denn nach jedem Untergang einer Gattung ist die Evolution einen Schritt weiter. Ich ziehe vom ES herauf zum E und habe dadurch eine quasi dominantische Beziehung und damit als Quintenrahmen einen Göttlichen Rahmen gezogen. […] Soviel Arbeit habe ich bislang noch nie in ein Stück gesteckt, mich schreckt der baldige Abgabetermin […]“
1. September 2008: „Hier ist die fertige Partitur. Ich habe das Stück nun doch anders betitelt. Der Titel stammt aus einem Gesang der Navajo Indianer, mit dem diese ihre schwer Verwundeten ins Leben zurückholen. Da dabei ähnliche Linien gesungen werden, wie mein Glissando im Flötenkopf, und weil es bei deren Gesang um eine Definition von Leben und des Beschwörens der Lebensgeister geht, habe ich mir gedacht, dass der Titel gar nicht so schlecht ist und auch zu Mahler passt.“
Rückblende an die kompositorischen Anfänge des jugendlichen Daniel Hensel: „Wir finden es großartig, daß du bereits komponierst und wünschen Dir, daß Du später einmal ein berühmter Dirigent und Komponist wirst. Bis dahin ist es jedoch ein langer und sehr arbeitsreicher Weg, auf dem man künstlerische Erfahrungen sammeln muß. Das war bei Beethoven und Mozart so und bleibt auch unseren heutigen Autoren nicht erspart.“, heißt es in einem Schreiben des Verlags C. F. Peters vom 18. April 1994 zu den damals eingereichten Erstlingswerken. Nur vierzehn Jahre später steht Daniel Hensel mit der Aufführung seines neuesten Werkes neben einer Mahler-Symphonie heute tatsächlich dort, wofür ihn ein damals vielleicht lediglich wohl gesonnener Lektor in prophetischer Gabe zu bestärken wusste. „Gesang des gesegneten Lebens“ ist dem verehrten Lehrer Heinz Winbeck zugeeignet.
CHRISTIAN HEINDL
CHRISTIAN HEINDL stammt aus Wien und studierte Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Skandinavistik. Freier Kulturjournalist und Rundfunkmitarbeiter, Vortrags- und Jurytätigkeit, Konzertorganisator. Spezialgebiete: Musik des 20./21. Jahrhunderts, Musik im Exil, nationale Schulen, Jugendmusik. Präsident der Jenö Takács-Stiftung und der Österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik.
Professor Michael Obst
Institut für Neue Musik - Komposition
Weimar May 5th, 2007
Recommendation for Daniel Hensel
Daniel Hensel was my composition student during his post-graduate studies during the 2004/05 academic year. I had admitted him to my composition class because I found the compositions he submitted for his entrance examination both interesting and multifarious. They consited of chamber music as well as works for choir and orchestra. The compositions he wrote during his studies in Weimar display an especially individual style and a diverse way of handling the compositional means of our time. During the past months, Daniel Hensel has shown me several of his new works, which convinced me that he has found his own compositional language and knows how to state his artistic concerns by using his comprehensive knowledge of the stylistic means of contemprary music. This knowledge, which of course also includes musical tradition, is also an ideal prerequisite for a future teaching position.
Prof. Michael Obst