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„Burn, Witch burn!“ — Willkommen in Büdingen, op.32, im Auftrag von hr2-kultur

Im Gedenken an Rosemarie und Gerhard Eckert, Marianne E. Deasy gewidmet

Das zutiefst persönliche Stück beschreibt den Weg aus meiner Wohnung, durch die Garagentür hindurch, durch die Stadt bis zum Seemenbach im Schlosspark.
Es ist schwer, ein Stück über eine Stadt zu schreiben, in der die eigene Familie seit über 500 Jahren wohnt, und zwar nachweisbar seit mindestens 1580. Das Sterben Alt-Büdingens ist in diesem Stück das Thema. Mir kam es darauf an, die Klänge zu verwenden, die mich mehr oder weniger täglich begleiten, wie z.B. die Blockflöte meiner Tochter, die Gitarre meines Sohnes und die Stimmen meiner vier Kinder, die Glocke der Marienkirche und des westfälischen Glockenspiels des Schlosses, in dem ich lange Jahre Schlossführer war. Dabei scheue ich mich auch nicht, die Inschriften in dem mir vertrauten Sandstein zu zitieren, vor allem die fragmentarischen der Epitaphe aus dem 17. Jahrhundert auf dem Friedhof, mal wörtlich, mal in Granularsynthese in die Atome zerlegt. Dabei soll das Stück gestaltete Musik sein und die Klänge in einer — weitestgehend — stilisierten Form erklingen.
Wirklichkeit und Fiktion durchdrängen sich daher oder werden zwischen Makro- und Mikrokosmos zerrieben. Analogien zwischen den Büdinger Vogelgesängen und den Pulsaren entfernter Galaxien werden über die Pulsarsynthese her- und Fledermaus-Sonar gegenüber-, das am Wildpark den Besuchern vorgestellt wird. Die Jahrtausende alte Siedlungsgeschichte der Region immer im Hinterkopf, die Last der und Lust an Geschichte anhand des eigenen Stammbaums reflektierend, wird hier eine eigene Welt errichtet, ein Vorher zum Nachher umgedeutet, und Geschichte zur ewigen Jetztzeit. Im Zentrum des Stückes finden sich die vier Stimmen meiner Kinder. Ein wesentliches Element des Stückes ist das Wasser, das dem Büdinger als vor allem als Hochwasser nicht fremd ist. Das Wasser wird im Kontext mal friedlich, mal bedrohlich. Auf der anderen Seite ist das Wasser im alten Wissen, vermittelt durch Friedrich Weinreb, die Zeit selbst, die fließt, und so verstehe ich es auch musikalisch. Die Granular-Texturen und die wirklichen Wassergeräusche sind häufig nicht von einander zu unterscheiden, so wie erlebte und tatsächlich vergangene Zeit, Erinnerung oder Erzählung ineinander verschwimmen. Eine wesentliche Komponente entstand allerdings erst während der Komposition: der Bezug zur Zeit der Hexenprozesse als Gerichtsort der Grafschaft im 16. und 17. Jahrhundert, in der sich viele Familien durch Denunziation gegenseitig auslöschten, darunter sehr viele meiner direkten Vorfahren. Alle Namen der Angeklagten, zitiert nach Dr. Walter Niess, ob hingerichtet oder nicht, werden im Stück verlesen, wie auch die Namen meiner Ahnen seit 1580, letztere bilden den akustischen Hintergrund! Dabei werden die Namen der Angeklagten durch einen Lautsprecher, den ich klanglich der Sportpalast-Rede Goebbels’ nachzustellen versuchte, gesprochen, um eine Analogie zu den Stolpersteinen in Büdingen herzustellen und zu zeigen, dass Denunziation zeitlos ist und dabei nicht zwischen politischer oder religiöser Überzeugung unterscheidet. Die bewusst eingesetzten Übersteuerungen und Verzerrungen bilden eine akustische Analogie zu den lodernden Flammen der Scheiterhaufen und des Verbrennungsschmerzes. Alle Stimmen werden von mir oder meinen Kindern gesprochen.
Ich danke ausdrücklich der Geschichtswerkstatt Büdingen, namentlich Herrn Cott für die Überlassung der Materialien zu den Hexenprozessen. Die Aussichtslosigkeit und der Schrecken jener Zeit bilden den emotionalen Tief- oder Höhepunkt des Werkes. Ich gehe jedoch über die Stadt Büdingen hinaus in unseren Herrschaftsbereich der Grafschaft Hanau, wenn ich mit den Wölfen in Klein-Auheim singe und meine Kinder flüstern: „Ist der Papa jetzt ein Wolf? Ja!“ Hiermit stelle ich unfreiwillig eine Analogie zum Dorf Wolf her, aus dem mein Großvater stammt. Das Stück endet mit einer von mir komponierten dreistimmigen Fuge im Bach-Stil über das Lied „Der Mond ist aufgegangen“, das dem Büdinger durch das westfälische Glockenspiel des Schlosses die Nacht ankündigt. Die Fuge wurde jedoch über mehrere elektronische Verarbeitungen vollkommen entstellt. Hier und da ist der Dux erahnbar und kombiniert mit der Büdinger Sage „Vom groo Mennche“, im nahezu ausgestorbenen Büdinger Dialekt. Wer das „groo Mennche“ sieht, dem droht der Tod. Sterben allenthalben…


„Taub für des äussern Lebens wüstes Toben, schliesst er das Ohr dem innren Leben auf“, op.33
für 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrabass und Zuspiel-CD, im Auftrag des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg

Dieser Satz stammt aus dem Gedicht von J.G. Seidl, das anlässlich des Beethoven-Begräbnisses entstand und stammt aus der Allgemeinen musikalischen Zeitung, Band 29 aus dem Jahre 1827. Dieser Satz hat mich direkt nach dem Begräbnis meines verehrten Lehrers Heinz Winbeck gefunden. Den Auftrag für diese „Beethoven-Spiegelung“ bekam ich bereits einige Monate zuvor. Nach Winbeck und Beethoven ist mein jüngster Sohn Heinz-Ludwig benannt, also ist die Verbindung ohnehin vorhanden. Dieser Satz ist gleichsam Programm des Werks. Eisenbahnklänge, deren Rhythmen Analogien zur 7. Sinfonie Beethovens, erzeugen hier eine konkret-akustische Abrundung der Klänge des Ensembles und markieren wichtige Höhepunktstellen, darunter auch ein Eisenbahnklang der Bahn, die nach Tschernobyl fährt! Diese rhythmisch-sonischen Energien, die sich auch künstlich durch Granularsynthese herstellen lassen, werden auch aktiv mit Alltagsgegenständen, z.B. mit Kochlöffeln an den Lamellen meines Schlafzimmerschranks aufgespürt. Ein wesentlicher Teil wurde mit der Klangsynthese-Sprache incudine sowie mit Supercollider hergestellt. Ich habe mir einerseits Beethovens „kriminelle Energie“ (Zitat Winbeck in einer Kompositionsstunde) zum Vorbild genommen, andererseits seine exzellente motivisch-thematische Konstruktionsweise. Trotz aller Vierteltönigkeit und elektronisch anmutender Holzbläser wird hier ganz klassisch komponiert. Das „innere Leben“ jedoch wird durch Erlebniswelten, wie der Vogelgesänge, der philosophischen Spekulation mit harmonischem-Material, aber auch der Granulierung der Musik Beethovens selber aufgeschlossen. Meine Musik ist und bleibt Expressionismus im Sinne Schönbergs, die Wahl der Mittel ist dabei sekundär. Nur meinem Ausdrucksbedürfnis zu folgen, führe ich maßgeblich auf den Einfluss Beethovens zurück.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, op.35, im Auftrag von
hr2-kultur

Wie aktuell ist noch immer diese Zeile 3+4 aus Hölderlins Hymne „Patmos“. Ausgangspunkt dieses Stückes ist ein Aufenthalt am Grabe Hölderlins in Tübingen wenige Tage vor Verkündung der Pandemie-Maßnahmen. Es bilden sich mehrere Ebenen in diesem Stück: die Zeitebene des Aufenthalts mit samt ihren Ereignissen läuft unangetastet im Hintergrund, sie bildet den formalen Rahmen. Mittels verschiedener Filter scheint ein Moll-Akkord immer wieder hindurch, Phänomene, die in der Zeit passierten, werden vorweggenommen und zu musikalischen Ereignissen umgedeutet. Das gesamte Friedhofserlebnis wurde in 32 gleiche Teile geteilt, im 32. Lebensjahr unternahm Hölderlin seine Reise zum Reichstag. Diese Teile werden in einer zweiten und dritten Ebene unterschiedlich zusammengestellt, gestaucht oder gedehnt, bis sie in der Mitte des Werkes einen klanglichen Höhepunkt bilden. So wie in der Farbe weiß alle Farben enthalten sind, sind alle Klänge des Erlebnisses im Rauschen enthalten. Die Akkordfilter- Ebene wird im kontrapunktischen Sinne siebenfach überlagert. Alle Klänge werden aus diesen Zeitebenen und derjenigen meiner eigenen Patmos-Rezitation gewonnen. Diese mikroklanglichen Elemente sind ein Aufblitzen des Mikrokosmos im echten Leben. Gefahr kündigt sich oft so langsam an, dass man es nicht nachvollziehen kann, doch das auch wachsende Rettende muss schnell agieren, wenn es die Gefahr abwenden soll. In diesem Sinne ist das Ende zu verstehen.

„All The King’s Tags“, op.36, im Auftrag von
hr2-kultur

Am 2. Juli dieses Jahres (2021) jährt sich die historische Aufnahme des Songs „Hound Dog“ von Elvis Presley zum 55. Male. Das Klangmaterial dieses Werkes wurde aus Graffiti des Namens „Elvis“ gewonnen, der ein beliebtes Graffiti-Motiv weltweit zu sein scheint. Eine politische Komponente wurde aus den Vandalismus-Graffiti gewonnen, die die Black Lives Matter Bewegung an der Mauer des Elvis-Domizils Graceland hinterlassen hat. Die Farbspektren der Bilder wurden in Klangspektren übersetzt und weiterverarbeitet. Es wurden aber auch konkrete Klänge wie Farbspray-Dosen sowie Klangkulissen von Graffiti selbst verwendet.

"Claustrophobia ", eine elektroakustische Komposition, op.37, im Auftrag der Hessischen Kulturstiftung. Gefördert im Rahmen des „Kulturpaket II: Perspektiven öffnen, Vielfalt sichern“

"Claustrophobia schildert auf seine Weise, den Weg einer sechsköpfigen Familie in der und durch die Pandemiesituation. Die Erinnerung an eine Zeit, in der sorgloses Feiern möglich war, wird durch das penetrante Ticken der Uhr unterbrochen. Immer wieder wechseln reale mit surrealen Zuständen ab, wandeln sich Alltagsgegenstände (Waschmaschine, Hyperthermie-Generator) in Musikinstrumente, Bedrohung von außen wird Bedrohung von innen, Bedrohung von innen wird Ausbruch oder Resignation. Belastungen durch existentielle Bedrohung und die aussichtslose Krebserkrankung des Großvaters der Kinder werden durch meditative Zustände am Ende im Kinderlied 'erlöst'. Auf seine Art stellt mein elektroakustisches Werk Claustrophobia eine Brücke zu Werken wie der Sinfonia Domestica von Richard Strauss oder den Kindertotenliedern und der IX. Sinfonie von Gustav Mahler her."

1. Sinfonie "Ein Lied im höhern Chor. Aus der tieffen Ruffe ich HERR zu dir"; elektroakustisch; dem Andenken meines Vater gewidmet; gefördert durch NEUSTART KULTUR „Stipendienprogramm 2021" des BKM und der GEMA


Innerhalb von zwei Jahren habe ich sowohl meinen Vater als auch meinen väterlichen Mentor verloren. So ist das Werk meine persönliche Auseinandersetzung mit dem schweren Leiden und dem schweren Tod meines Vaters Reinhard Hensel und dem symphonischen Werk Winbecks, vor allem der IV. Sinfonie. Das Werk dauert 53 Minuten, am 22. September 1953 wurde mein Vater geboren. Im gleichen Jahr hatte Heinz Winbeck den Unfall, der ihm den Pfad zum Komponisten wies. Meine Geisteswelt wurde stark durch Mahlers Symphonien geprägt, aber um eine elektroakustische Sinfonie, wie ich sie mir vorstelle, zu realisieren, setzte ich mich mit den Werken Roland Kayns und der musique anecdotique eines Luc Ferrari auseinander.
Die elektroakustische Sinfonie gleicht einer Seelenreise. Die Enkelin verabschiedet den Großvater, im Sterben hört er sie im Wegdämmern und begibt sich auf die Reise. Diese ist u.a. vom tibetanischen Totenbuch und Nahtoderfahrungen inspiriert. Das Horn des Fährmanns ertönt und geleitet ihn in die Anderswelt. Reflexionen der Trauernden tönen immer wieder dazwischen. Die Gedichte bilden ein eigenes reflexives Requiem auf den Tod des Vaters des Dichters, dessen Vater wie Schwester im September starben. An einem 23., der Schicksalszahl Bergs, starb mein Vater, Alban Berg war für meine kompositorische Entwicklung vielleicht der wichtigste Komponist. So kommen Leben und Kunst zusammen. Die Form des Stückes ist die eines Zustandes, sie ist statistisch und dynamisch zugleich, wie das Jenseits ein Entweder-und-oder. Am Ende des Stückes, nach einem gigantischen Totentanz, wandern wir in die Geburt eines neuen Lebens: das Platzen der Fruchtblase meiner Tochter, sowie der Schrei meines 1. Sohnes kurz nach der Geburt leiten uns in ein neues Leben.

Textstruktur
neben der Grabrede meiner Tochter Gedichte von Jörg Bernig:
wüten gegen die stunden
(die selbst ein Requiem auf den Tod seines Vaters bildeten)
Grabrede (Anna-Maximiliane Hensel)
Jörg Bernig
— septemberlicht - alles ändert sich - das was gestern war - gravitation - fazit – anruf

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